AfD-Experte Andreas Kemper gibt Überblick zum „Rechtspopulismus“ im Nordosten

Nachdem Andreas Kemper bereits 2016 parallel zum damaligen Auftritt von Frauke Petry in Anklam über die Hintergründe und Strukturen im AfD-Umfeld aufklärte, lud ihn das Bündnis „Greifswald für Alle“ nochmals ein, dieses Mal nach Greifswald in das soziokulturelle Zentrum St. Spiritus mit über 80 interessierten Zuhörern.

Kempers Recherchen finden mehr und mehr Beachtung

Als Soziologe ist Kempers Schwerpunkt der Klassismus und hier insbesondere die stark unterschiedlichen Chancen im Bildungssystem in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft. Im Rahmen seiner Untersuchungen dazu stieß er auf organisierte Lobbygruppen mit Ungleichheitsdogmen als ideologischem Fundament, die die Zugangsmöglichkeiten zu Bildung und sozialer Teilhabe einschränken wollen. In diesem Umfeld braute sich zur Bundestagswahl 2013 die AfD zusammen, deren Entstehung Kemper damals als erster wissenschaftlich beschrieb und das erste AfD-kritische Buch überhaupt vorlegte. Seitdem verfolgt er den Werdegang der Protagonisten, die Netzwerke hinter der Partei, das organisatorisch-personelle Geflecht zwischen nationallibertären Vordenkern, einflussreichen Wirtschaftsverbänden, christlich-fundamentalistischen Kreisen, neonazistisch-völkischen Vereinigungen und AfD-affinen journalistischen Akteuren. Dass Björn Höcke engen Kontakt zum NPD-Umfeld pflegte, unter Pseudonym in neonazistischen Zeitschriften publizierte und sogar zur Wahl der NPD aufrief, deckte Andreas Kemper schon sehr früh auf. Seine Rechercheergebnisse und die erdrückende Beweislast wurde nach und nach von den großen Medien aufgenommen und mittlerweile dienen sie sogar den innerparteilichen Feinden Höckes als Fakten, um die Hauptfigur des rechtsradikalen Flügels zu belasten.

Die drei AfD-Flügel

Weber bekennt sich zu Höcke

Aber nicht nur der Höcke-Flügel ist eine kritische Betrachtung wert, sondern auch die anderen Strömungen haben äußerst radikale Vertreter, die sich zunehmend durchsetzen. Kemper differenziert die Partei in jeweils den neoliberalen, den radikalreligiösen und den völkischen Flügel. Seit der Gründungsphase gibt es durchgängig diese drei Strömungen, nur die öffentlichkeitswirksamen Thematisierungen haben sich geändert. Während beispielsweise die homophoben, antifeministischen Aktivitäten Beatrix von Storchs anfangs noch kommuniziert wurden, verpackt man sie mittlerweile nur noch unter dem Schlagwort des Kampfs gegen Genderisierung. Dabei sind die Netzwerke ihrer aus dem Hochadel stammenden Familie brisant, denn hier vereinen sich antidemokratisch-monarchistische Ziele mit klerikalfaschistischen Tendenzen und ultrakapitalistischen Ideologien. So sehen sie Ungleichheit als Gottes Willen an, fordern die Wiedereinführung aller Adelsprivilegien, bekämpfen den für sie zu liberalen Papst, arbeiten mit den mafiösen „Legionären Christi“ zusammen, forcierten den Gesetzentwurf zur Einführung der Gefängnisstrafe bei Abtreibungen in Polen. Die Amtskirche und unsere progressive Gesellschaft mit individuellen Freiheiten ist für diesen AfD-Flügel wörtlich der Vorhof zur Hölle und den modernen Sozialstaat gilt es zugunsten rein familiär getragener Sozialstrukturen abzuschaffen. Diese Ansicht wiederum teilt sich die fundamentalistische AfD-Strömung mit den libertären Vertretern der Partei, die eine gewisse Überschneidungsmenge mit den öffentlich bekannten neoliberalen Wirtschaftsprofessoren, die es auch nach dem Weggang Bernd Luckes noch gibt, besitzen. So fordert Konrad Adam ein Klassenwahlrecht, das alle Leistungsempfänger von demokratischer Mitbestimmung ausschließt; der AfD-Vordenker und Doktorvater von Alice Weidel, Peter Oberender, wollte Hartz-IV-Bezieher zur Finanzierung ihrer Sozialleistungen durch Organspende heranziehen; der Chef der Libertären Alternative, Sven Tritschler, möchte das gesamte Sozial- und Rentensystem komplett abschaffen, dafür aber den privaten Waffenbesitz legalisieren, damit man sich gegen die Aufstände der dadurch entstehenden Armutsmassen wehren kann. All diese Hintergründe stellt Andreas Kemper seit geraumer Zeit seinen Blog-Lesern und den Gästen seiner Vorträge detailliert vor, aber nur die Verbindungen zwischen Höcke und der NPD und seine rassistischen Ansichten werden auch tatsächlich breitenwirksam aufgenommen. Die sind natürlich erschreckend und die Menge und Radikalität seiner direkt nationalsozialitischen Ausführungen und Anleihen sind besorgniserregend. Aber gerade vor dem Hintergrund, dass die AfD von Arbeitslosen und Geringverdienern deutlich überdurchschnittlich gewählt wird, wäre es umso wichtiger, dass das radikalkapitalistische Fundament der Partei ebenso in den Blickpunkt gerät. Die wenigen sozial ausgerichteten AfD-Kandidaten findet man auch entsprechend nur auf den chancenlosen hinteren Listenplätzen, die sozialen Punkte in den AfD-Programmen sind unrealisierbar durch die zahllosen Steuersenkungsforderungen und antisozialstaatlich ausgerichteten Ziele. Dessen sollte man sich deutlich bewusst sein, so macht Andreas Kemper klar.

Vergleich der Anträge/Anfragen im Landtag

Die AfD in Mecklenburg-Vorpommern

Wie ist nun die AfD im Nordosten zu verorten? Hierfür wurde eine Analyse der Anträge und Anfragen der Fraktion im Schweriner Landtag erstellt und konkrete Äußerungen der Spitzenleute aus MV untersucht. Die AfD des Landes hat einen deutlichen Schwerpunkt bei den Themen Polizei, Innere Sicherheit, Aufenthalts- und Asylrecht sowie den Kampf gegen erneuerbare Energien. Während DIE LINKE ihren klaren Schwerpunkt im Bereich der Bildungspolitik hat, sieht sich die AfD in der Aufgabe der Thematisierung von Kriminalität, Flüchtlingen (jede zweite Anfrage im Landtag hat Geflüchtete und Asylpolitik zum Gegenstand, im Kreistag Vorpommern-Greifswald votiert die AfD sogar gemeinsam mit der NPD) und geht sehr oft den Weg über die Kostenermittlung diverser Maßnahmen und Einrichtungen. Besonders perfide gehen die AfD-Abgeordneten vor, wenn sie sich beispielsweise nach der Situation der Prostitution oder der Verbreitung von Krankheiten im Land erkundigt, aber in der Ausformulierung vor allem daran Interesse daran hat, die Nationalität der Zuhälter und die Herkunft der Infizierten zu erfahren. Was sie mit der Information, dass fast alle Zuhälter MVs Deutsche sind, nun machen, ist leider unbekannt. Bekannt hingegen ist, dass der Juraprofessor Ralph Weber als Deutsche nur ansieht, wer analog zum Ariernachweis aus der NS-Zeit vier deutsche Großeltern hat und er sich konkret als Höcke-Unterstützer inszeniert. So übernimmt er zahlreiche Forderungen seiner Reden, beispielsweise eine 180-Grad-Wende im Umgang mit dem „Schuld-Kult“ oder beruft sich auf die mehr als tausendjährige germanisch-deutsche Vergangenheit. Und auch Weber hat wie Höcke, bzw. Höckes Pseudonym Landolf Ladig, mehr vor als nur parlamentarische Politik zu betreiben: so will er einen „Orkan“ erzeugen, der die linksgrüne Ideolologie „hinwegfegt“ und seinem nationalistischen Gesellschaftsentwurf „zum Sieg“ verhilft und er somit die AfD nur als „letzte evolutionäre Chance“ ansieht, aber letztlich eine revolutionäre Situation zum Umsturz der Verhältnisse anstrebt. Dies scheint der wesentliche Kern der Nordost-AfD zu sein, die sich nur oberflächlich als moderat ausgibt. Denn etliche andere Hinweise auf die ideologische Ausrichtung insbesondere des Greifswalder Kreisverbands lassen sich anführen: so gastierte nicht nur der erwähnte AfD-Gründer Konrad Adam 2016 hier, sondern auch der neurechte Erik Lehnert vom Institut für Staatspolitik, das eine dezidierte Gewaltagenda und faschistoid orientierte Metapolitik propagiert, hielt einen Vortrag im Burschenschaftshaus des Greifswalder AfD-Landtagsabgeordneten Kramer. Andreas Kemper sieht die MV-Landtagsfraktion zwar im Vergleich zu anderen AfD-Fraktionen noch als relativ vorsichtig formulierend an, aber die ideologische Grundausrichtung scheint eine der radikalsten bundesweit zu sein. Daher empfiehlt er dringende Wachsamkeit und stetige kritische Auseinandersetzung mit den Akteuren am rechten Rand.

Siehe auch: http://webmoritz.de/2017/05/17/andreas-kemper-demokratie-in-gefahr/

Eine Mahnwache des AStA am 12.02.17 setzte gemeinsam mit dem Bündnis „Greifswald für alle“ ein klares Zeichen

Fast 300 Studierende, Universitätsmitarbeitende und nichtuniversitäre Bürger Greifswalds demonstrierten für Solidarität, Verständigung und Weltoffenheit. (Foto: Till Junker)

Für die Universität – Für Greifswald – Für Menschenrechte

Am Rubenowplatz sammelten sich die Studierenden und Universitätsmitarbeiter und starteten einen Demonstrationszug zum Marktplatz. (Foto: Alexander Lenz)

„Sich auf dem Marktplatz bei Temperaturen unter Null für mehr Toleranz und ein weltoffenes Greifswald auszusprechen, ist das überparteiliche Bündnis „Greifswald für alle“ seit dem Herbst 2015 ja gewohnt“ berichtet Christoph Volkenand, Pressesprecher des Bündnisses. „Dass diesem Ruf die Greifswalderinnen und Greifswalder auch an einem Sonntag folgen möchten, um sich mit den Studierenden und Mitarbeiter*innen der Universität zu solidarisieren und für eine demokratische, menschenwürdige und inklusive Stadtgesellschaft einzusetzen, das ist ein wirklich starkes und hoffnungsvolles Zeichen. Während des Demonstrationszuges und der Kundgebung bewiesen das heute zwischen 250 und 300 Bürger*innen mit viel Sachlichkeit, guter Laune und einem großen Aufgebot intelligenter Reden“, so Volkenand am Ende der Veranstaltung.

Um 14.30 Uhr versammelten sich laut Polizei 180 Studierende und andere Interessierte am Rubenow-Denkmal, um von dort aus gemeinsam (nach ersten einführenden Worten des StuPa-Präsidenten Adrian Schulz) zum Marktplatz zu gehen, wo sie von weiteren 100 Bürger*innen erwartet wurden.

Redner Rodatos vor dem Transpi des überparteilichen zivilgesellschaftlichen Bündnisses „Greifswald für Alle“ (Foto: Alexander Lenz)

Fabian Schmidt, AStA-Vorsitzender der Universität Greifswald, zeigte sich sehr erfreut über das große Interesse und bat als ersten Redner des Tages Julius Ungermann ans Mikrophon. Der Veranstalter tritt damit gleich den Beweis an, dass das eigentliche Thema dieser Veranstaltung das Miteinander der Menschen in Greifswald und nicht etwa die Pro-Contra-Arndt Diskussion ist. Julius Ungermann selbst ist Mitglied jener Bürgerinitiative pro Arndt, welche am Vortag eine Menschenkette in der Innenstadt bildete. Der Student ließ keinen Zweifel daran, dass er zwar das Verfahren des Senats der Universität nicht mitträgt, aber ein großes Problem damit hat, wer auf den Zug der Debatte aufspringt, um die Debatte für nationalistische und menschenverachtende Ideologien zu instrumentalisieren.

Ihm folgten Redebeiträge von Peter Madjarov und Professor Micha Werner, die ihrerseits zu der erschreckenden Entwicklung der Arndt-Debatte nach dem Beschluss des Senats Bezug nahmen und klar und deutlich, unter großem Applaus der Zuhörer*innen, vor der Vereinnahmung der Diskussion durch rechte und populistische Kräfte warnten. Allerdings sei es ebenso fatal, alle Arndt-Befürworter in die rechte Ecke zu stellen. Das Thema liegt vielen Menschen, besonders den gebürtigen Greifswaldern am Herzen und ist hoch emotional. Sie alle mit der FFDG, der AfD oder den rechten Gruppierungen, die sich auf der anderen Seite des Marktplatzes sammelten, in einen Topf zu werfen, würde den Menschen und der Debatte nicht gerecht.

Indes verließen immer mehr Menschen die Pro-Arndt-Kundgebung, auf der sich führende AfD-Mitglieder und FFDGler das Mikrophon in die Hand gaben. Während Norbert Kühl, Veranstalter und leitender Kopf der Greifswalder Pegida, sich wie gewohnt in Beleidigungen und unsachlichen Äußerungen übte (so bezeichnete er die Gegendemonstranten als „Kasper“ und „Deppen“), war es das große Aufgebot an eindeutig nationalistischen und rechtsgerichteten Teilnehmer*innen, das Anlass zur Sorge gaben.

Etliche Teilnehmer der FFDG-/AfD-Demo kamen aus dem rechtsextremistischen Umfeld. „Freiheit statt BRD“ ist ein klassischer NPD-Slogan.

Ein Bündnismitglied sprach mit drei dieser Menschen über ihre Beweggründe, „die Seite zu wechseln“:

„Denen geht es doch nicht um Arndt, das ist bestenfalls der Versuch eines AfD-Wahlkampfes,“ so B. Echrecher aus Greifswald, die sich am Samstag an der Menschenkette beteiligte.

„Gestern die CDU, heute die AfD. Bei aller Liebe zu Arndt, diese nationalistische Sprache, die Floskeln und Phrasen, das ist unerträglich und macht mir Angst“, so eine weitere Zuhörerin, die allerdings eher zufällig auf der „anderen“ Seite stand und sich „das Spielchen mal ansehen wollte.“

„Sehen Sie mal, wer da alles steht. Haben Sie das Banner gesehen? ‚Freiheit statt BRD‘. Da steht eine Glatze im SS-Mantel, Nazis, gegen die ich in den 90ern schon auf die Straße gegangen bin, der halbe NPD-Kader, die AfD und diese FFDG. Das ist eindeutig eine rechte Kundgebung, die uns jede Möglichkeit einer sachlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Ernst Moritz Arndt nimmt. Ich ärgere mich, dass ich das nicht vorher erkannt habe, und ich kann nicht verstehen, wie unsere Politiker das so hinnehmen können, denn außer Herrn Rodatos, Herrn Neubert, Frau Wölk und Frau Schwenke sehe ich hier niemanden aus der Bürgerschaft.“, so Peter K. (75 Jahre und begeisterter Arndt-Befürworter).

Prof. Micha Werner, Rektor Dr. Flieger, Prof. Stamm-Kuhlmann und viele weitere Universitätsangehörige nahmen teil. (Foto: Alexander Lenz)

Anne Wolf sprach für das „Bündnis Greifswald für alle“ und fand klare Worte nicht nur zur Debatte Arndt, sondern auch und besonders über die FFDG, mit der sie sich – wie das gesamte Bündnis – seit Herbst 2015 konfrontiert sieht. Abschließend wandte sie sich darum an jene Menschen, die den Schulterschluss mit der Greifswald Pegida suchen:

„Man kann die Auseinandersetzung um Ernst Moritz Arndt gern führen; in einer Demokratie ist der Austausch über unterschiedliche und kontroverse Meinungen sowohl üblich als auch erwünscht. Aber man sollte das bestimmt nicht gemeinsam mit Leuten tun, die von unserer Demokratie nichts halten. Insofern gilt mein Aufruf allen Menschen auf der anderen Seite des Greifswalder Marktplatzes: Bleiben Sie nicht dort. Unabhängig von Ihrer persönlichen Meinung zu Ernst Moritz Arndt: Lassen Sie die FFDG alleine stehen. Sie sind keine gute Gesellschaft.“

Weitere Redebeiträge folgten von Professor Thomas Stamm-Kuhlmann, Mignon Schwenke und Milos Rodatos, während die selbsternannte „Großdemo Pro Arndt“ zusammenpackte und das Wohnzimmer unserer Stadt verließ. Bald verabschiedete auch Fabian Schmidt die Greifswalderinnen und Greifswalder in den Sonntagabend, nicht ohne seinen Dank an alle für die großartige Unterstützung auszusprechen.

„Das Bündnis Greifswald für alle unterstützte heute die Mitarbeiter*innen und Studierenden der Universität Greifswald in ihrem Anliegen, die gefühlte Distanz zwischen einheimischer Stadtbevölkerung und zugezogenen Studierenden und Wissenschaftler*innen zu verringern. Gemeinsam mit der Universität werden wir weiter daran arbeiten, Verständnis füreinander aufzubringen und in einem angemessenen Ton, frei von rechter Ideologie, über die Belange der Stadt zu diskutieren. Egal, ob pro oder contra Arndt, der Diskurs muss in gesitteten Bahnen und frei von Hass und Ausgrenzung geführt werden“, so Volkenand.

Fotos 1-3: Alexander Lenz, Foto 4: Straßentalk, Fotos 5-8: Till Junker

Neubau im A11-Quartier am Hansering: Warum ist das so teuer?

Als A11-Quartier wird die etwa 4800 m² große Fläche zwischen Hansering, Roßmühlenstraße, Brüggstraße und Kuhstraße bezeichnet. Dort soll die WVG Wohnungen mit gehobener Qualität und Parkplätze schaffen. Leider gelingt es der WVG offenbar nicht das Projekt so umzusetzen, dass die rechnerisch notwendige Miete den ortsüblichen Rahmen einhält. Damit sich das Bauprojekt in angemessener Zeit selbst finanziert, rechnet die WVG mit 12 Euro Miete (kalt) pro Quadratmeter und kalkuliert dass dieser Mietzins bis 2040 auf 17,48 Euro gesteigert werden müsste. Weil diese Mieten aber niemand bezahlen wird, ist mit einem Verlust zu rechnen.

grundriss des geplanten Quartiers

Eine zunächst nichtöffentliche Vorlage der Verwaltung zu diesem Thema sollte am 17. Und 18. Oktober Finanz- und Bauausschuss diskutiert werden. Final abgestimmt wird diese Vorlage schließlich am 10.11.2016 in der Bürgerschaft. Sowohl der Finanz- als auch der Bauausschuss haben sich jedoch dazu entschieden, die Vorlage öffentlich zu behandeln. Das ist absolut richtig, denn bei derartig hohen Investitionssummen besteht ein erhöhtes öffentliches Interesse. Bereits jetzt sind ca. 3,9 Millionen Euro in das Projekt geflossen.

Die Vorlage selbst ist trotzdem (noch?) nicht öffentlich im Ratsinformationssystem einsehbar. Aus ihr geht hervor, dass die Verwaltung gegenwärtig vier Szenarien für die weitere Entwicklung sieht:

  1. Der Kaufvertrag über das Grundstück wird rückabgewickelt, das Grundstück (ca. 700.000 Euro) gehört dann wieder der Stadt und diese kann relativ frei darüber verfügen.
  2. Das Grundstück wird mit oder ohne die erfolgten Planungen an einen Investor verkauft. Hier besteht die Chance einen Teil der bisher investierten 3,9 Millionen Euro wieder einzunehmen.
  3. Die WVG zieht die Sache durch und baut. Dann muss sie jedoch tief in die eigene Tasche greifen, da sie die berechneten Mieten nicht erzielen kann.

Wieso ist das so teuer?

Frontalansicht auf das geplante Quartier

Die Grundfrage sollte jedoch sein, weshalb die im A11-Gebiet WVG nicht kostendeckend bauen kann. Die Miete in einem Neubauprojekt setzt sich aus der Investition und den vom Eigentümer zu tragenden Betriebs- und Unterhaltungskosten zusammen. Bei den meisten Projekten soll natürlich auch noch Gewinn erzielt werden. Diese Summe soll letztlich über einen bestimmten Zeitraum (z. B. 30 Jahre) durch Mieten eingenommen werden.

Diverse Positionen der Baukosten sind hierbei für das Projekt A11 bekannt. So wurde das Grundstück für etwa 700.000 Euro von der Stadt an die WVG verkauft. Archäologische Ausgrabungen sollen etwa eine Million Euro zusätzlich gekostet haben. Doch diese beiden außergewöhnlichen Faktoren reichen nicht aus, um die Kostenexplosion zu erklären. Insgesamt soll das Projekt etwa 25,2 Millionen Euro kosten. Wenn man nun Archäologie und den hohen Grundstückspreis zusammen mit 1,5 Millionen Euro ansetzt, erklärt das jedoch nur 6 % der Gesamtkosten. Selbst wenn man 10 Euro Kaltmiete als Maßstab nähme, überstiegen die berechneten 12,00 Euro mitsamt der saftigen Steigerung auf 17,48 Euro jedoch diese Schmerzgrenze.

Als Erklärung werden weiterhin gestiegene Baukosten (Material und Arbeit) sowie höhere Baustandards angeführt. Insbesondere die Energieeinsparverordnung (EnEV) soll ein Preistreiber sein – andererseits sollte sich Energieeinsparung ja bei der Warmmiete wiederum lindernd auswirken.

Selbstverständlich gibt es Untersuchungen zur Frage der Baukosten. In diesen sind Effekte der EnEV auch bereits integriert und mit 2-5 % an den Kostengruppen 300 und 400 geschätzt. In diesen Untersuchungen werden die Kosten üblicherweise in einen Quadratmeterbaupreis umgelegt. Dieser hängt natürlich stark von den Baustandards ab, übersteigt jedoch selten einen Wert von mehr als 2500 Euro pro Quadratmeter. Bei den 95 geplanten Wohnungen kalkuliert die WVG jedoch 3382 Euro pro Quadratmeter– erneut stellt sich die Frage: Woher kommen diese immensen Preisentwicklungen? Die WVG gegenüber der Bürgerschaft erklären, wie es dazu kommt. Andernfalls entsteht der Eindruck, dass die WVG nicht kosteneffizient bauen kann.

Dass es anders geht, hat die WGG gezeigt: Ihre 2015 fertiggestellten Wohnungen in der Feldstraße soll man für 7,50 Euro pro Quadratmeter mieten können.

Eine Frage drängt sich außerdem auf: Wenn die WVG womöglich größere Bauprojekte nicht wunschgemäß umsetzen kann, sollte sie dann tatsächlich Zugriff auf Teile des B-Plan 55 (Hafenstraße) erhalten?

Die beiden Grafiken stammen aus einer im Bauausschuss gezeigten Präsentation, die man vollständig im Ratsinformationssystem unter der Vorlagennumer 06/640.2 finden kann.

Warum steht das „Pariser“ immer noch leer?

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Das als „Pariser“ bekannte Haus in der Kapaunenstraße 20 wurde in den 90er Jahren als  Jugendprojekt aufgebaut und hat danach diverse Entwicklungen erlebt.
Zuletzt hat der Verein „Initiative Kapaunenstraße 20“ das Gebäude betreut. Der Verein konnte jedoch seit 2013 eine angebotene Kaufoption für das Pariser nicht nutzen und auch kein verlässliches Konzept für die Jugendarbeit nachweisen. Die Stadt hat daraufhin den Mietvertrag mit dem Verein gekündigt – seitdem steht das Pariser leer. Die Stadtverwaltung verfolgte anschließend den Plan, das Pariser zu verkaufen.
Damit im Pariser weiterhin Jugend- und Sozialarbeit geleistet werden kann, hat die  Bürgerschaft jedoch beschlossen (B188-07/15) dass dieser Zweck an den Verkauf des Gebäudes gekoppelt sein soll.

Es folgte ein „Interessenbekundungsverfahren“, an dem sich der „Verein zur Förderung solidarischer Lebensgestaltung“ (SoLe e.V.) beteiligt hat, wie Vereinsmitglied Torsten Galke erklärt:

„Die genannten Bedingungen schienen uns nicht sehr attraktiv. Da aber eine soziale Nutzung vorgesehen war, dachten wir uns mit der Stadt einigen zu können. Darum haben wir ein Angebot gemacht und ein Konzept vorgestellt, wie wir das Haus sanieren und soziale Arbeit vor Ort leisten wollen. Die Sanierung wäre dabei schon ein Teil des Projektes gewesen.“

Die Informationen zum Interessenbekundungsverfahren besagten, dass das denkmalgeschützte Gebäude mit 75 m² Nutz- und 25 m² Abstellfläche vom Interessenten saniert werden sollte. Die Kosten für diese Sanierung sollten sich durch die hohen Auflagen der Stadt auf 200.000 bis 250.000 Euro belaufen. Anschließend sollte ein 5-jähriger Pachtvertrag abgeschlossen werden. Selbst, wenn es gelänge die volle Fläche des Gebäudes nutzbar zu machen, lägen die Kosten folglich bei 2.000 bis 2.500 Euro pro Quadratmeter. Interessenten wären anschließend zudem mit Pachtzinsen belastet worden. Wollte man die Sanierungskosten als Miete auf die kurze Pachtzeit umlegen, so ergäben sich Kaltmieten von über 40 Euro pro Quadratmeter.

„Wir hatten vor, das Pariser mit geflüchteten und deutschen Jugendlichen gemeinsam zu sanieren und so die Integration der Geflüchteten und die interkulturelle Kompetenz der deutschen Jugendliche schon in dieser Phase des Projektes zu verbessern. Außerdem hätten sich so niedrigere Kosten für die Sanierung ergeben. Die Stadt hätte das Ganze nichts gekostet. Sowohl für die soziale Arbeit als auch für die Sanierung wären wir als Verein aufgekommen.“

Obwohl die Stadt so mehrere Probleme durch die Mitarbeit des Vereins hätte lösen können, fand der Vorschlag wenig Zustimmung in der Verwaltung:

„Uns fehlten die Worte als wir die Bedingungen und  Forderungen der Stadtverwaltung an unseren Verein lasen. Die Verwaltung hat alle möglichen Stolpersteine ausgegraben. Lösen sollten diese Probleme aber wir als Verein. Die Planung der Bausauführung sollten beispielsweise durch ein Planungsbüro vorgelegt werden. Wir sollten bereits Nachweise für Mittel erbringen, die wir noch gar nicht beantragt hatten. Auch unser Planungsstand für die Sanierung wurde kritisiert, obwohl wir nur eine kurze Begehung des Hauses zur Orientierung hatten. Die vielen Auflagen sind auch ein Anzeichen dafür, dass unsere Grundidee der Sanierung in Eigenleistung nicht berücksichtigt wurde. Die Kosten für diese Forderungen der Stadtverwaltung gehen in die Tausende und Zehntausende. Derart umfangreiche Vorleistungen sind für einen Verein kaum leistbar, zumal wir nur sechs Wochen Zeit hatten zu reagieren. Darum haben wir einen Kompromissvorschlag verfasst.

Wir haben dann jedoch aus der Ostsee-Zeitung erfahren, dass unser Konzept nicht nachhaltig sei. Fehlende Businesspläne und eine nicht ausreichende Darstellung der Finanzierung der Stellen sollen das Problem sein. Tatsächlich konnten wir, wie von der Stadtverwaltung gefordert, aber bereits 60.000 Euro an Eigenmitteln nachweisen, mit der wir die Sanierung hätten umsetzen können.  Eine schriftliche Antwort liegt uns aber bislang nicht vor.

Unserer Ansicht nach ist es nicht die Aufgabe der Stadtverwaltung das unternehmerische Risiko unseres Vereins einzuschätzen. Wie wir das Projekt  finanzieren, ist unsere Angelegenheit und wurde auch ausreichend dargestellt. Wir haben erwartete Einnahmen absichtlich sehr niedrig angesetzt, um zu zeigen, dass es auch bei einer ungünstigen Entwicklung möglich ist, den Betrieb aus eignen Mitteln zu stemmen. Unsere Finanzierung daher als nicht nachhaltig abzutun, empfinden wir als unangemessen.

Das Ganze lenkt davon ab, was hier eigentlich passiert ist. Ein inhaltlich als positiv bewertetes soziales Projekt zur Integration von Geflüchteten wird mit so hohen Auflagen belegt, dass es schon im Keim erstickt wird. Die Stadtverwaltung hatte hier die Chance, eine soziale Initiative zu stärken und zu fördern. Stattdessen hat sie das Projekt gekonnt verhindert.“

Das Pariser am 19.10.2016

Anlagen

B188-07/15
Interessenbekundungsverfahren
Konzept der SoLe e.V.
Reaktion der Stadt auf die Bewerbung
Antwort des Verein auf die Forderungen der Stadtverwaltung

 

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